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(Alters-)Armut in einem reichen Land

(Alters-)Armut in einem reichen Land

von in Aktuelles AN 24. November 2016


Über mehrere Jahrzehnte hinweg hörte und las man selten etwas über Armut in der Bundesrepublik, und wenn, dann meistens im Zusammenhang mit besonders spektakulären Ereignissen bzw. tragischen Einzelschicksalen: dem Kältetod eines Obdachlosen, dem Verhungern eines Kleinkindes oder der Gründung einer „Tafel“, wie die Suppenküchen heutzutage beschönigend genannt werden. Vielmehr wurde Armut mit Not und Elend in der sog. Dritten Welt assoziiert oder mit Blick auf die hiesige Wohlstandsgesellschaft als Randerscheinung bzw. Restgröße verharmlost, auf unterschiedliche Weise ideologisch verschleiert und aus der Öffentlichkeit verdrängt.

An zahlreichen Beispielen aus Politik, Massenmedien und Fachwissenschaft zeigt sich, dass Armut in (West-)Deutschland selten oder nie den Aufmerksamkeitsgrad gefunden hat, der ihr eigentlich gebührt, und dass sie keineswegs zufällig immer wieder aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden, sondern daraus teilweise gezielt verbannt worden ist. Schließlich besaßen wirtschaftlich potente Gruppen der Gesellschaft ein Interesse an ihrer Tabuisierung und konnten diese in ihrem Sinne beeinflussen. Armut wurde mit dem Ziel eskamotiert, kaschiert oder ideologisch verbrämt, die sich tendenziell immer stärker ausprägende soziale Ungleichheit zu legitimieren. Pointiert formuliert: Zu keinem Zeitpunkt hat sich die (west)deutsche Gesellschaft ernsthaft mit dem Problem der sozialen Ungleichheit auseinandergesetzt und nach Möglichkeiten zu dessen Lösung gesucht, sondern die Armut meistenteils bewusst ignoriert, negiert oder relativiert, um ihm ausweichen zu können.

Armutsentwicklung und -diskurse nach dem Zweiten Weltkrieg

Da praktisch sämtliche Bevölkerungsschichten unter den massiven Zerstörungen, sozialen Verwerfungen und materiellen Entbehrungen litten, die das Alltagsleben vornehmlich im Nachkriegsjahrzehnt bestimmten, lag es nahe, weniger die gesellschaftlichen Interessengegensätze als die gemeinsamen Unsicherheiten und Zukunftsängste zu betonen. Extreme Armut, die sich in Massenelend, Wohnungslosigkeit und Hungersnot äußerte, wurde daher selten als eine Folge der Klassenspaltung, überkommener Herrschaftsverhältnisse oder ungleicher Verteilungsrelationen, sondern eher als von den Alliierten oktroyierte und von der Bundesregierung nicht unmittelbar zu beeinflussende Kriegslast betrachtet.

Lange wurde Armut, wenn man sie überhaupt noch wahrnahm, als Kriegsfolge und Nachwirkung der Besatzungszeit betrachtet, die im Zuge des erfolgreichen Wiederaufbaus von selbst verschwinden werde. In bzw. unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg waren viele Deutsche evakuiert, ausgebombt oder vertrieben worden. Nicht zuletzt diesen persönlichen Erfahrungen dürfte es geschuldet sein, dass Armut noch Jahrzehnte später mit Wohnungsnot identifiziert und auf Obdachlosigkeit reduziert wurde. Außerdem galt sie als Ergebnis der Wechselfälle des Lebens, die manche Menschen „nicht in den Griff bekamen“ bzw. „aus der Bahn warfen“, weshalb sie als persönliches Schicksal und nicht als gesellschaftliches Problem galt, das politisch bekämpft werden musste.

Durch die Währungsreform, bei der sämtlichen Besitzer(inne)n einer am 20. Juni 1948 gültigen Lebensmittelkarte, die 40 Reichsmark bezahlten, dafür eine gleich hohe „Kopfquote“ in der neuen Währung ausgehändigt wurde, entstand der Gründungsmythos einer weitgehend egalitären Nachkriegsgesellschaft. Dieser falsche Eindruck verstärkte sich nicht zuletzt wegen der Tatsache, dass die Bundesrepublik Deutschland eine Währung erhielt, noch bevor sie im Jahr darauf als Staat auf die politische Weltbühne trat.

In dem lang anhaltenden und nur durch leichte konjunkturelle Rückschläge unterbrochenen westdeutschen Wirtschaftsaufschwung ging die Massenarmut schnell zurück, wenngleich das Armutsproblem nie ganz verschwand. Das unvorstellbare Nachkriegselend mit Wohnungsnotstand, Kältetoten sowie Hunger- und Versorgungskrisen wich im Laufe der 50er- und frühen 60er-Jahre, durch äußerst günstige weltpolitische und -wirtschaftliche Rahmenbedingungen gefördert, einem meist allerdings recht bescheiden anmutenden Wohlstand für immer größere Bevölkerungsteile. Vor diesem Hintergrund versprach der spätere Bundeskanzler Ludwig Erhard in seinem Anfang 1957 erschienenen Buch „Wohlstand für Alle“, das Auf und Ab der Konjunkturzyklen zu überwinden, Vollbeschäftigung zu gewährleisten und den privaten Reichtum durch Verstetigung des Wachstums zu maximieren, ohne dass eine Umverteilung stattfinden müsse.

Je mehr Bevölkerungsgruppen im Laufe des relativ stetigen Wirtschaftsaufschwungs wenn auch zum Teil unterdurchschnittlich am gesellschaftlichen Wohlstand beteiligt wurden, umso weniger Aufmerksamkeit fand die Armut der übrigen. „Armut“ entwickelte sich aus einem Reizwort im Kalten Krieg während der hierzulande besonders stark ausgeprägten Prosperitätsperiode mehr und mehr zu einem politischen Unwort. Auf dem Höhepunkt des „Wirtschaftswunders“ war zwar nicht die Armut selbst, wohl aber der Begriff fast völlig aus dem öffentlichen Diskurs und der soziologischen Fachliteratur verschwunden. Wer die Vokabel „Armut“ trotzdem in den Mund nahm und damit nicht die soziale Notlage der Entwicklungsländer meinte, war als Kommunist verschrien und wurde aufgefordert, „nach drüben“ zu gehen, d.h. in die DDR überzusiedeln.

Die (west)deutsche Soziologie verzichtete jahrzehntelang fast ganz darauf, sich mit dem Problem auseinanderzusetzen. Wenn jemand Karriere im Wissenschaftsbetrieb machen wollte, war dafür kaum ein Thema weniger förderlich als die Armut, deren Entstehung und Entwicklung nicht zuletzt deshalb weitgehend im Dunkeln blieben. Sich als Sozialwissenschaftler/in schwerpunktmäßig mit gesellschaftlichen Außenseiter(inne)n bzw. den berühmt-berüchtigten A-Gruppen (Arbeitslosen, Alkoholikern, Alten, Ausländern, Alleinerziehenden und/oder anderen Armen) zu beschäftigen, galt damals eher als despektierlich. Spezialuntersuchungen westdeutscher Fachwissenschaftler/innen zu dieser Thematik hatten absoluten Seltenheits-
wert. Da man weder von der Bundesrepublik als Klassengesellschaft noch über die Gesellschaftsklassen sprechen wollte, schwieg man auch über die Armut.

Kaum hatte sich die Kennzeichnung der westdeutschen Ökonomie als „Soziale Marktwirtschaft“ durchgesetzt und dem Nachkriegskapitalismus ein positives Image verliehen, machte Helmut Schelsky, seinerzeit Professor für Soziologie an der Hamburger Akademie für Gemeinwirtschaft, mit einer Legitimationsformel regelrecht Furore, welche die Bundesrepublik Deutschland als „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ charakterisierte. Nivelliert seien nicht nur die Klassengegensätze, schrieb Schelsky bereits 1953, sondern auch die Realeinkommen, der Geschmack und der Lebensstil. Die junge Bundesrepublik erschien Schelsky als das Land auf der Welt, wo die Klassenstruktur der bürgerlichen Gesellschaft am weitestgehenden überwunden sei. Er diagnostizierte einen „Entschichtungsvorgang“, durch den die Bedeutung von Bevölkerungsschichten überhaupt schwinde, während die soziale Mobilität zunehme und die Masse der erzeugten Güter für alle Bürger zumindest subjektiv genügend Teilhabemöglichkeiten eröffne.

Armut (und Reichtum) im Wirtschaftswunderland

Entgegen Schelskys populären Annahmen waren Klassen und Schichten weder durch die „Volksgemeinschaft“ der Nationalsozialisten noch durch das „Wirtschaftswunder“ der Nachkriegszeit zum Verschwinden gebracht, die damit verbundenen Interessengegensätze und strukturell bedingten Konflikte vielmehr nur materiell überdeckt bzw. ideologisch verschleiert worden. Darüber nicht mehr zu sprechen hieß eben gerade nicht, sie für immer zu überwinden, sondern die fortbestehenden Antagonismen zu zementieren. Dasselbe gilt natürlich für die Armut, der Schelsky nicht zufällig genauso wenig Aufmerksamkeit schenkte wie dem nur scheinbar egalitären Vermögensverhältnissen gewichenen Reichtum, der sich hauptsächlich im Eigentum an Produktionsmitteln manifestierte und sich bald stärker in wenigen Händen konzentrierte als zur Zeit des Kaiserreichs, der Weimarer Republik und des NS-Regimes.

Je mehr die westdeutsche Gesellschaft, statt ihre widersprüchliche Realität und sozial heterogene Zusammensetzung zu akzeptieren, ein unrealistisches (Zerr-)Bild von sich selbst entwickelte, in dem weder Raum für nennenswerte Armut noch für großen Reichtum war, umso weniger war sie fähig, soziale Polarisierungstendenzen in ihrer Mitte auch nur wahrzunehmen, von der Bereitschaft ihrer Eliten, dieser Entwicklung konsequent entgegenzusteuern, ganz zu schweigen. Um die Mitte der 60er-Jahre wähnten sich die meisten Politiker und publizistischen Meinungsführer der Bundesrepublik auf dem besten Weg zu einem immerwährenden Wohlstand. Das konjunkturelle Auf und Ab der Vergangenheit schien überwunden, und einem ungebremsten Wirtschaftswachstum, das bloß noch einigermaßen gerecht verteilt werden musste, nichts mehr entgegenzustehen. Jahrzehntelang blieb Armut geradezu ein Tabuthema, mit dem sich die deutsche Öffentlichkeit kaum befasste. Während die relativ geringen Einkommensdifferenzen in der DDR verhinderten, dass sich die kommunistische Partei- und Staatsführung überhaupt mit dem Problem auseinandersetzen musste, nahmen die Massenmedien der Bundesrepublik nur sporadisch davon Notiz.

Erst im Gefolge der Rezession 1966/67 einerseits sowie der Schüler- und Studentenbewegung bzw. der Außerparlamentarischen Opposition (APO) andererseits wurde die Armut in der Bundesrepublik wieder öffentlich wahrgenommen und zumindest ansatzweise in Politik, Fachpublizistik und Sozialwissenschaften thematisiert. Nunmehr wandten sich vor allem kritisch eingestellte Studierende, Sozialwissenschaftler/innen und Sozialarbeiter/innen bzw. -pädagog(inn)en den lange vergessenen und vernachlässigten Bewohner(inne)n von Notunterkünften und Obdachlosenasylen zu. Armut schien sich damals auf gesellschaftliche „Randgruppen“ zu beschränken, weshalb sich die ohnehin kaum vorhandene Armutsforschung auf (Schwerst-)Behinderte, psychisch Kranke, (jugendliche) Arbeitslose, Strafgefangene, Vorbestrafte, ausländische „Gastarbeiter“, die großteils in Baracken und Blechcontainern hausten, Aussiedler/innen, die in Übergangswohnheimen untergebracht waren, Drogenabhängige, „Nichtsesshafte“, Berber, Trebegänger/innen und Obdachlose konzentrierte.

Nach der Bildung einer sozial-liberalen Koalition unter Führung Willy Brandts im Herbst 1969 normalisierten sich nicht nur die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten dadurch, dass eine von den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges unterstützte Ost- und Entspannungspolitik betrieben und der Grundlagenvertrag geschlossen wurde, sondern es verringerten sich auch die sozialen Spannungen und Konflikte im Innern. Aufgrund richtungweisender Reformen im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik schien die Gefahr der Verarmung größerer Bevölkerungsgruppen vorerst gebannt zu sein, denn mit dem „Modell Deutschland“ (SPD-Wahlslogan) verband sich nicht zuletzt die Zielsetzung einer größeren Verteilungsgerechtigkeit.

Dies änderte sich während der Weltwirtschaftskrise 1974/75 grundlegend. Je mehr Personen wegen zunehmender Arbeitslosigkeit und Armut auf staatliche Unterstützungsleistungen angewiesen waren, umso weniger kamen sie in deren Genuss. Da es keine hohen Zuwächse des Bruttoinlandsprodukts mehr zu verteilen gab, entfiel nun auch in der Bundesrepublik die Grundlage für einen sozialstaatlichen Konsens aller gesellschaftlich relevanten Kräfte, der nach dem Zweiten Weltkrieg und im Zeichen des „Wirtschaftswunders“ die Inklusion benachteiligter Minderheiten ohne Einbußen für die große Mehrheit und die besonders Privilegierten ermöglicht hatte. Die ökonomischen Krisenerscheinungen sowie die damit verbundenen gesellschaftlichen Machtverschiebungen und ihre Konsequenzen für das parlamentarische bzw. Parteiensystem trugen dazu bei, dass Willy Brandt, dem Kanzler der „inneren Reformen“, am 16. Mai 1974 mit Helmut Schmidt ein Krisenmanager folgte.

Die damalige Weltwirtschaftskrise führte zu einem Kurswechsel in der westdeutschen Sozialpolitik: Durch zuerst noch relativ geringfügige Leistungskürzungen und eine schrittweise Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen wollte man die öffentlichen Finanzen konsolidieren und gleichzeitig die privaten Investitionen stimulieren. Das am 1. Januar 1976 in Kraft getretene Haushaltsstrukturgesetz, welches die Staatsausgaben vor allem im Bereich der Bundesanstalt für Arbeit und im Bildungswesen verringerte, markierte eine historische Zäsur. Denn damit ging die mehrere Jahrzehnte währende sozialpolitische Expansionsperiode zu Ende, und eine Phase der Stagnation bzw. der Regression begann.

Regierungspolitik gegen Arbeitslose und Arme – Sozialstaat und Leistungsmissbrauch in der Kritik

Durch die beiden Wirtschaftskrisen 1974/75 und 1980/81 wurden die Westdeutschen endgültig aus ihrem „kurzen Traum immerwährender Prosperität“ (Burkart Lutz) gerissen, welcher sie daran gehindert hatte, die gesellschaftliche Realität und damit auch die Armut wahrzunehmen. Gleichwohl blieb die Grundüberzeugung, wonach die Leistung der Individuen über ihr Schicksal entscheidet, trotz gegenteiliger Erfahrungen im Wesentlichen bestehen, und die illusionäre Hoffnung, dass kein Gesellschaftsmitglied im „Wirtschaftswunderland“ bevorzugt oder benachteiligt würde, prägte auch weiterhin das Alltagsbewusstsein.

Die „geistig-moralische Wende“, von der Bundeskanzler Kohl sprach, brachte für Arme und sozial Benachteiligte weniger Unterstützung in schwierigen Lebenslagen, mehr Missbrauchsvorwürfe an ihre Adresse und einen stärkeren (Kontroll-)Druck der zuständigen Behörden mit sich. Die neue „Koalition der bürgerlichen Mitte“ betrieb eine klar auf Umverteilung „von unten nach oben“ gerichtete Wirtschafts- und Sozialpolitik, die sie durch den Verweis auf das Allgemeinwohl legitimierte. Vor allem ihre Steuerpolitik sorgte während der 80er- und 90er-Jahre dafür, dass sich die
Einkommensverteilung zulasten von Arbeitnehmer(inne)n, deren Reallöhne sanken, und ihren Familien verschob, während begünstigt wurde, wer Einkünfte aus Unternehmertätigkeit und Vermögen erzielte.

Während der 1980er-Jahre vollzog sich in der „alten“ Bundesrepublik eine tiefgreifende soziale Spaltung zwischen Beschäftigten und Erwerbslosen, deren materielle Schlechterstellung zuerst im Gewerkschaftsbereich registriert und als „neue Armut“ etikettiert wurde. Auch im etablierten Wissenschaftsbetrieb blieb das Anwachsen der Armut während der 80er-Jahre nicht ohne Echo. Zumindest nahm die Zahl einschlägiger Veröffentlichungen in diesem Zeitraum gegenüber den vorangegangenen Dezennien zu. Die etablierte Sozialwissenschaft verschloss vor der wachsenden Armut jedoch die Augen, denn sie orientierte sich hauptsächlich an Modernisierungs- und Individualisierungstheoretikern. Nun war fast überhaupt nicht mehr von Klassen und Schichten die Rede, sondern bloß noch von soziokulturellen Milieus und Institutionen kollektiver Normengebung, die tradierte Sicherungssysteme und überkommene Reproduktionsmuster zugunsten einer „Pluralisierung der Lebensstile“ auflösten.

Ulrich Beck sprach in seinem 1986 erschienenen, bis heute viel zitierten und weit über den Wissenschaftsbereich hinaus einflussreichen Buch „Risikogesellschaft“ von einem sozialen „Fahrstuhl-Effekt“, der alle Klassen und Schichten nach dem Zweiten Weltkrieg „insgesamt eine Etage höher gefahren“ habe. Während am Beginn der Bundesrepublik ein „kollektiver Aufstieg“ gestanden habe, seien die 80er-Jahre von einem „kollektiven Abstieg“, einem „‚Fahrstuhl-Effekt‘ nach unten“ gekennzeichnet. Dabei übersah der Münchner Soziologe allerdings, dass sich Gesellschaften
nicht gleichförmig entwickeln und ein Paternoster-Effekt dominiert: In demselben Maße, wie die einen nach oben gelangen, geht es für die anderen nach unten. Mehr denn je existiert im Zeichen der Globalisierung bzw. der neoliberalen Modernisierung ein soziales Auf und Ab, das Unsicherheit und Existenzangst für eine wachsende Zahl von Menschen mit sich bringt.

Asyldebatte, Standortideologie und Armutsdiskurse im vereinten Deutschland

Durch den Zusammenschluss von BRD und DDR am 3. Oktober 1990 bekam die Armut in Deutschland ein anderes Gesicht. Das soziale Problemfeld der Arbeitslosigkeit wie der Armut wurde in seiner Struktur grundlegend verändert und verlagerte sich stärker nach Osten, wohingegen das Altbundesgebiet sogar von einem mehrjährigen „Vereinigungsboom“ profitierte. Die neue Armut war weder temporärer noch singulärer Natur, sondern ein Strukturproblem, das (in seiner ganzen Brisanz) entweder nicht erkannt oder bewusst negiert wurde. Systematisch unterschätzte man das Ausmaß der Armut in Ostdeutschland, von welcher besonders viele Kinder betroffen waren. Dass die Sozialhilfequote hinter der in Westdeutschland zurückblieb, gab Anlass zu der Hoffnung, alles sei halb so schlimm, hing aber vermutlich mit Informationsdefiziten ehemaliger DDR-Bürger/innen zusammen. Diese wussten meist gar nicht, dass man ergänzend Sozialhilfe beantragen konnte, wenn der Lohn, das Arbeitslosen-
geld oder die Arbeitslosenhilfe zu gering ausfielen, oder es herrschte eine falsche Scham.

Da die (Bundes-)Politik weder durch eine allgemeine soziale Grundsicherung noch durch Schritte der Umverteilung „von oben nach unten“ gegensteuerte, verfestigte sich die seit der „Wende“ in Ostdeutschland auftretende Armut und führte zu einer dauerhaften Unterversorgung vieler Menschen. Sie war weder eine soziale Erblast des SED-Regimes noch eine bloße „Randerscheinung des Vereinigungsprozesses“ (Kurt Biedenkopf), sondern Resultat einer Implementierung der kapitalistischen Wirtschaftsstruktur, die ohne ausreichende Sensibilität für die Belange der ehemaligen DDR-Bürger/innen erfolgte sowie durch arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitische Maßnahmen bloß abgefedert wurde.

Die vollmundige Parole „Niemandem wird es schlechter gehen, dafür vielen besser“, mit der Kohl die Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 gewann, erwies sich als wenig realistisch. In den folgenden Jahren dienten die unterschätzten „Kosten der Einheit“ den Regierungsparteien CDU, CSU und FDP als Legitimationsbasis für weitere „Sparprogramme“ und eine wiederholte Senkung von Sozialtransfers. Es lag nahe, die kaum mehr übersehbare „Wiederkehr der Armut“ (Axel Honneth) mit der Vereinigung in Verbindung zu bringen und auf diese Weise als exogenes, d.h. nicht vom eigenen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem erzeugtes Problem zu begreifen.

Obwohl der Kalte Krieg für den Westen „siegreich“ beendet und der Systemgegensatz 1989/90 überwunden war, sahen manche Beobachter/innen und Kommentator(inn)en die erweiterte Bundesrepublik bzw. deren Wohlstand zudem durch internationale Entwicklungen und Migrations-
bewegungen von außen gefährdet. Die emotional aufgeladene Asyldebatte 1991/92 drehte sich daher nicht zuletzt um den angeblich massenhaften Missbrauch der Sozialhilfe durch „Wirtschaftsasylanten“, wie Menschen genannt wurden, die nur des größeren Wohlstandes wegen nach Deutschland kämen, ohne in ihrer Heimat politisch verfolgt zu sein. Ohne den „Volkszorn“ gegen Flüchtlinge schürende Medienberichte wären die rassistisch motivierten Pogrome im sächsischen Hoyerswerda (September 1991) und in Rostock-Lichtenhagen (August 1992) kaum vor laufenden Fernsehkameras mit Applaus bedacht worden.

Die kampagnenartig geführte Asyldebatte, mit welcher zu Beginn der 90er-Jahre öffentlich Stimmung gegen Zuwanderer im Allgemeinen und Flüchtlinge im Besonderen gemacht worden war, fand ihre Fortsetzung und Vertiefung in einer Standortdiskussion, die den „Um-“ bzw. Abbau des Sozialstaates ideologisch vorbereitete und begleitete. Im Mittelpunkt stand nunmehr die Wettbewerbsfähigkeit des „eigenen“ Wirtschaftsstandortes. Für diesen Fetisch waren politisch einflussreiche Kreise in der Gesellschaft offenbar bereit, nicht bloß die soziale Sicherheit von Millionen Arbeitnehmer(inne)n zu opfern.

Die neoliberale Wohlfahrtsstaatskritik bemängelte Überversorgung und „Schmarotzertum“ der Armen, richtete ihren Hauptstoß jedoch gegen das System der sozialen Sicherheit. Man bezichtigte den Wohlfahrtsstaat, die Armut nicht ernsthaft zu bekämpfen, sondern zu erzeugen oder zu vergrößern. Außer neoliberalen Ökonomen, Kapitalverbänden und von ihnen beeinflussten Meinungsbildnern vertraten und vertreten auch konservative Politiker und Publizisten solche Positionen. Wolfgang Schäuble, damals Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, sprach beispielsweise in seinem 1994 erschienenen Buch „Und der Zukunft zugewandt“ von einer „Hypertrophie des Sozialstaates“, die aufgrund hoher Wachstumsraten der Wirtschaft lange kaum als Problem empfunden worden sei, jetzt aber nicht nur Finanzierungsschwierigkeiten bereite: „Ich bin fest davon überzeugt, daß eine Vielzahl unserer Sozialleistungen auch eine demotivierende und damit zukunftsfeindliche Wirkung haben.“ Schäubles politisch-publizistischer Frontalangriff auf den Sozialstaat gipfelte im Ruf nach mehr Ungleichheit, was nichts anderes heißt als eine größere Verteilungsungerechtigkeit: „Man muß sich fragen, ob wir, um unsere gegenwärtigen Probleme in den Griff zu bekommen, nicht wieder zu einer weniger ‚durch-egalisierten‘ Gesellschaft finden müssen. Gezielt Eliten zu fördern oder überhaupt erst wieder zu ermöglichen, erscheint mir heute dringlicher denn je.“

Ein anderer Liberalkonservativer, der damalige Bundespräsident Roman Herzog, benutzte in seiner am 26. April 1997 im Nobelhotel Adlon gehaltenen Berliner „Ruck“-Rede die Metapher von einem „großen, globalen Rennen“, das begonnen habe und eine „Aufholjagd“ der als schwerfällig, satt und behäbig dargestellten Deutschen nötig mache. Erforderlich war aus dieser Sicht eine härtere Gangart gegenüber Leistungsunwilligen und Langzeit-arbeitslosen. Herzog verstand sich als Mahner und Warner, wurde aber immer mehr zum Verkünder neoliberaler Heilslehren, wie sie z.B. die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ propagiert. In großformatigen Zeitungsanzeigen dieser von den Arbeitgebern der Metall- und Elektroindustrie mit 100 Mio. EUR finanzierten Initiative klagte Herzog nach der Jahrtausendwende über das „verfettete“ Gemeinwesen und verkündete larmoyant: „Wir haben so viel Sozialstaat aufgebaut, dass er unsozial geworden ist.“ Unsozial war allerdings nicht der moderne Sozialstaat, vielmehr eine Gesellschaft, die glaubte, ihn sich finanziell nicht mehr leisten zu können, obwohl sie reich wie nie war. Wer den Wohlfahrtsstaat auf diese Weise als zu freigiebig im Umgang mit Steuergeldern und als zu großzügig gegenüber den Transferleistungsbezieher(inne)n darstellt, schadet den Armen, die auf ihn existenziell angewiesen sind.

Gerhard Schröders „Agenda 2010“ und Hartz IV: Armut per oder trotz Gesetz?

In ihrer am 20. Oktober 1998 geschlossenen Koalitionsvereinbarung mit dem Titel „Aufbruch und Erneuerung – Deutschlands Weg ins 21. Jahrhundert“ versprachen SPD und Bündnis 90/Die Grünen eine armutspolitische Kurskorrektur: „Die Bekämpfung der Armut ist ein Schwerpunkt der Politik der neuen Bundesregierung. Besonders die Armut von Kindern muß reduziert werden.“ Wer gehofft hatte, die nach der Bundestagswahl am 27. September 1998 gebildete rot-grüne Koalition werde eine ganz andere Sozialpolitik als ihre Vorgängerin machen und die Armen davon profitieren, sah sich jedoch getäuscht.

Kurz vor der Jahreswende 2002/03 formulierten Mitarbeiter/innen der Planungsabteilung des damals von Frank-Walter Steinmeier geleiteten Kanzleramtes ein Thesenpapier mit dem Titel „Auf dem Weg zu mehr Wachstum, Beschäftigung und Gerechtigkeit“, das auf der sog. Lissabon-Strategie basierte, die dem Wunsch entsprang, die Union im laufenden Jahrzehnt „zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen“, also die US-Hegemonie auf dem Weltmarkt zu brechen und selbst eine wissenschaftlich-technisch begründete Führungsrolle zu übernehmen. Am 14. März 2003 gab Gerhard Schröder vor dem Bundestag eine Regierungserklärung ab, die eine kleine Arbeitsgruppe unter maßgeblicher Mitwirkung von Steinmeier entworfen hatte und den hochtrabenden Namen „Agenda 2010“ trug. Deutschland kämpfe derzeit, sagte Schröder am Beginn seiner Rede, mit einer Wachstumsschwäche, die nicht zuletzt strukturell bedingt sei. Deshalb müsse seine Regierung entschlossen handeln, um die Rahmenbedingungen für mehr Wachstum und Beschäftigung zu verbessern: „Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen. Alle Kräfte der Gesellschaft werden ihren Beitrag leisten müssen: Unternehmer und Arbeitnehmer, freiberuflich Tätige und auch Rentner.“ Dass keineswegs alle Gruppen „den Gürtel enger schnallen“ mussten, Einkommen und Vermögen der Kapitaleigentümer und Spitzenverdiener vielmehr sogar überproportional zunehmen sollten, verschwieg Schröder.

Bei den zahlreichen Montagsdemonstrationen und Protestaktionen gegen das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt („Hartz IV“) im Herbst 2004 spielte die PDS-Parole „Armut per Gesetz“ eine Schlüsselrolle. Bis heute ist die Frage umstritten, ob die Grundsicherung für Arbeitsuchende nur vorher verdeckte Armut sichtbar gemacht oder neue Armut erzeugt hat. Vermutlich ist beides der Fall: Einerseits nahmen und nehmen das Arbeitslosengeld II auch viele Menschen, vor allem Geringverdiener/innen, sog. Freiberufler/innen und (Solo-)Selbstständige, in Anspruch, die aus Scham nicht zum Sozialamt gegangen wären, um „Stütze“ zu beantragen, andererseits erhalten mehrere hunderttausend frühere Empfänger/innen von Arbeitslosenhilfe seither weniger oder gar kein Geld mehr, weil das Partnereinkommen (z.B. gut verdienender Ehemänner und Lebenspartner) bei Hartz IV sehr viel strikter auf den Leistungsanspruch der Antragsteller/innen (überwiegend Frauen) angerechnet wird. Insgesamt zeitigte das Gesetzespaket negative Verteilungseffekte.

Euphemistisch als „Zusammenlegung mit der Sozialhilfe“ bezeichnet, war die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe ein gravierender Rückschritt in der Entwicklung des Arbeits- und Sozialrechts, zumal sie mit einer Abschiebung der Langzeitarbeitslosen in die Wohlfahrt einherging. War die Arbeitslosenhilfe noch eine Lohnersatzleistung, die sich selbst Jahre oder Jahrzehnte später nach der Höhe des vorherigen Nettoverdienstes richtete, ist das Arbeitslosengeld II genauso niedrig wie die Sozialhilfe. Hartz IV sollte nicht nur durch Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und Abschiebung der Langzeitarbeitslosen in die Wohlfahrt den Staatshaushalt entlasten, sondern auch durch Einschüchterung der Betroffenen mehr „Beschäftigungsanreize“ im Niedriglohnbereich schaffen. Man zwingt sie mit Hilfe von Leistungskürzungen, schärferen Zumutbarkeitsklauseln und Maßnahmen zur Überprüfung der „Arbeitsbereitschaft“ (vor allem sog. 1-Euro-Jobs), fast jede Stelle anzunehmen und ihre Arbeitskraft zu Dumpingpreisen zu verkaufen.

Der missverständliche Begriff „Bildungsarmut“ und die Pädagogisierung des Armutsproblems

Zuletzt machte der Begriff „Bildungsarmut“ eine steile Medienkarriere, von dem fast immer dann die Rede war, wenn es um die materielle Unterversorgung junger Menschen ganz allgemein und besonders um die Schlechterstellung von Migrant(inn)en im deutschen Schulsystem ging. Seit der Begriff um die Jahrtausendwende eingeführt wurde, tut man so, als könne eine gute Schulbildung oder Berufsausbildung verhindern, dass Jugendliche ohne Arbeitsplatz bleiben. Tatsächlich verhindern Bildungsdefizite vielfach, dass junge Menschen auf dem überforderten Arbeitsmarkt sofort Fuß fassen. Bildung ist jedoch keine Wunderwaffe im Kampf gegen die Armut, zumal sie immer mehr zur Ware verkommt. Denn wenn alle Kinder und Jugendlichen in Deutschland – was zweifelsohne sinnvoll und anzustreben ist – bessere Bildungsmöglichkeiten erhalten, konkurrieren sie am Ende womöglich auf einem höheren Bildungsniveau, aber nicht mit besseren Chancen um weiterhin fehlende Lehrstellen und Arbeitsplätze. Dann gibt es zwar mehr Taxifahrer mit Abitur Hochschulabschluss, aber nicht weniger Arme.

Zweifellos ist es mehr als skandalös, dass die Kinder aus sozial benachteiligten Familien erheblich weniger gute Bildungschancen haben als die Zöglinge der besonders Gutsituierten und auf diesem für ihren ganzen Lebens- und Berufsweg zentralen Feld hierzulande stärker diskriminiert werden als in fast allen übrigen entwickelten Industriestaaten, wie der internationale Schulleistungsvergleich PISA bestätigte. Ursache und Wirkung dürfen allerdings nicht vertauscht werden, indem man so tut, als führten ausschließlich oder hauptsächlich mangelnde Bildungsanstrengungen zu materieller Armut. Obwohl es meistenteils umgekehrt ist, fällt sonst ausgerechnet den Betroffenen im Sinne eines individuellen Versagens (der Eltern) die Verantwortung dafür zu, während ihre gesellschaftlich bedingten Handlungsrestriktionen und die politischen Strukturzusammenhänge aus dem Blick geraten.

Natürlich ist Armut mehr als Mangel an Geld, der durch finanzielle Zuwendungen behoben werden könnte. Politiker/innen heben dies immer wieder hervor, womöglich deshalb, um es nicht für ihre Bekämpfung verwenden zu müssen. Armut schlägt sich auch nicht bloß als chronisches Minus auf dem Bankkonto oder als gähnende Leere im Portemonnaie nieder. Denn sie führt zu vielfältigen Benachteiligungen, Beeinträchtigungen und Belastungen, etwa im Bildungs-, Kultur- und Freizeit- wie auch im Gesundheits- und im Wohnbereich. Dieser Umstand hat es materiell besser gestellten Schichten immer schon erleichtert, die Armen nach dem Motto „Geld macht ohnehin nicht glücklich“ regelrecht zu verhöhnen, verleitet jedoch heute noch Kommentatoren dazu, Armut zu subjektivieren, zu individualisieren bzw. zu biografisieren und sie auf Sozialisations- bzw. Kulturdefizite oder die „Bildungsferne“ der Betroffenen zurückzuführen. Bildung steht nicht zuletzt deshalb im Mittelpunkt des neueren Armutsdiskurses der Bundes-
republik, weil sie für das deutsche Kleinbürgertum seit jeher eine probate Möglichkeit darstellt, sich nach oben und unten gleichzeitig abzugrenzen. Je mehr die gesellschaftliche Mitte unter ökonomischen Druck gerät und sozial erodiert, umso energischer weigern sich manche ihrer Repräsentanten, Armut und Prekarität als traurige Realität des Gegenwartskapitalismus zu akzeptieren.

Philipp Mißfelder, 29-jähriger Bundestagsabgeordneter, Vorsitzender der Jungen Union und Mitglied des CDU-Präsidiums, löste einen Proteststurm aus, weil er am 15. Februar 2009 auf einem sonntäglichen Frühschoppen seiner Partei in Haltern gesagt hatte: „Die Erhöhung von Hartz IV war ein Anschub für die Tabak- und Spirituosenindustrie.“ Mißfelder unterstellte den Bezieher(inne)n von Arbeitslosengeld II, dass sie jene wenigen Euro, die es seit dem 1. Juli 2008 mehr gab und die noch nicht einmal das Steigen der Lebenshaltungskosten auszugleichen vermochten, in Zigaretten und alkoholische Getränke gesteckt hätten. Man fragt sich unwillkürlich, ob solche Äußerungen einen politischen Versuchsballon darstellen, die Stimmung im Land testen sollen und nach einem durchaus möglichen Meinungsumschwung im Zuge der Weltwirtschaftskrise den Auftakt für entsprechende Änderungen der Sozialgesetze (z.B. die Umstellung der Grundsicherung für Arbeitsuchende von Geldauf Sachleistungen) bilden könnten.

Regierungspolitik nach dem Matthäus-Prinzip

Armut und Reichtum sind keine unsozialen Kollateralschäden im Zeichen der Globalisierung, wie der Öffentlichkeit eingeredet wird, sondern in dem bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftssystem funktional, d.h. gewollt und bewusst erzeugt. So hat die Große Koalition mit ihrer Mehrheit in Bundestag und -rat kurz vor dem Jahreswechsel 2008/09 nach jahrelangem Tauziehen eine Erbschaftsteuerreform verabschiedet, die einen verteilungspolitischen Skandal ersten Ranges darstellte, weil sie besonders Reiche und Superreiche begünstigt. Kindern von Familienunternehmern wurde die betriebliche Erbschaftsteuer vollständig erlassen, sofern sie die Firma zehn Jahre, und zu 85 Prozent, wenn sie das Unternehmen sieben Jahre lang fortführten und die Lohnsumme insgesamt mindestens zehn bzw. 6,5 Mal so hoch war wie im letzten Tätigkeitsjahr des Erblassers. Ehepartner/innen, die eine selbst genutzte Luxusimmobilie erben und sie zehn weitere Jahre bewohnen, bleiben künftig von der Erbschaftsteuer ganz verschont, genauso wie Kinder, sofern die Wohnfläche 200 qm nicht überschreitet und sie für zehn Jahre dort ihren Hauptwohnsitz einrichten.

Nach ihrem Erfolg bei der Bundestagswahl am 27. September 2009 und Bildung einer Regierungskoalition der „bürgerlichen Mitte“ haben CDU, CSU und FDP die Erbschaftsteuer erneut reformiert. Aufgrund des am 1. Januar 2010 in Kraft getretenen Wachstumsbeschleunigungsgesetzes kommen nicht bloß Geschwister, sondern auch entferntere Verwandte (Neffen, Nichten usw.) in den Genuss niedrigerer Steuersätze. Auch die sog. Lohnsummenregelung bei der Betriebsübergabe wurde aufgeweicht: Der maßgebliche Zeitraum sank auf fünf Jahre und die Mindestlohnsumme auf das Vierfache der Ausgangslohnsumme. Schließlich verringerte sich der „Behaltenszeitraum“, also die Zeitspanne, in der ein Familienmitglied den Betrieb weiterführen muss, um von der Erbschaftsteuer verschont zu bleiben, von sieben auf fünf Jahre.

Später möchten CSU und FDP eine „Regionalisierung“ der Erbschaftsteuer erreichen: Diese soll von den einzelnen Bundesländern selbst geregelt und dabei im Sinne eines „Wettbewerbsföderalismus“ nach dem Konkurrenzprinzip unterschiedlich gestaltet werden können. Dies hätte zur Konsequenz, dass ein reiches Bundesland wie Bayern niedrigere Sätze und/oder höhere Freibeträge einführt, wodurch noch mehr Reiche und Superreiche veranlasst würden, sich dort niederzulassen. Daraufhin könnte man beispielsweise die Erbschaftsteuer ganz entfallen lassen, was die soziale Asymmetrie zwischen den Bundesländern weiter verschärfen würde. Am Ende stünde eine Bundesrepublik, deren Steuerlandschaft einem Flickenteppich gliche und die auch sozialräumlich noch viel tiefer in Arm und Reich gespalten wäre, als das jetzt bereits der Fall ist.

In kaum einem westlichen Industriestaat ist die Erbschaftsteuer so niedrig und das Finanzaufkommen daraus so gering wie hierzulande (ca. 4 Mrd. EUR pro Jahr). Auch im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit verspricht das Steuergeschenk der Großen und der schwarz-gelben Koalition keinen Erfolg, denn wieso sollten Familienunternehmer fähiger sein als potenzielle Käufer oder von diesen beauftragte Manager? Mitnahmeeffekte sind dagegen kaum zu vermeiden. Konsequenter war da übrigens der frühere US-Präsident George W. Bush, der die Erbschaftsteuer in seinem Land ganz abschaffen wollte. Selbst ein Neoliberaler hat aber Schwierigkeiten, diesen Schritt zu rechtfertigen: Zwar soll sich Leistung (wieder) lohnen, ist es jedoch eine Leistung, der Sohn bzw. die Tochter eines Multimillionärs oder Milliardärs zu sein?

Während man deutschen Unternehmerdynastien wie Burda, Oetker oder Quandt/Klatten (BMW) Steuergeschenke in Milliardenhöhe machte, bat man Geringverdiener/innen samt ihrem Nachwuchs seit dem 1. Januar 2007 stärker als vorher zur Kasse: Die Anhebung der Mehrwert- und Versicherungssteuer von 16 auf 19 Prozent trifft tagtäglich besonders jene Familien hart, die praktisch ihr gesamtes Einkommen in den Konsum stecken (müssen). Angela Merkel war selbst aus konjunkturpolitischen Gründen nicht bereit, die Mehrwertsteuer – der britischen Regierung folgend – zu senken.

War die Bundesregierung schon mit dem im Oktober 2008 fast über Nacht geschnürten Paket zur Rettung maroder Banken, das als Finanzmarktstabilisierungsgesetz staatliche Bürgschaften und Kapitalhilfen in Höhe von 480 Mrd. EUR umfasst, gegenüber Eignern, Brokern und Börsianern ausgesprochen großzügig, so ergießt sich ausgerechnet über den reichsten Familien unseres Landes künftig ein weiterer Geldsegen. Dividenden, die bisher dem sog. Halbeinkünfteverfahren unterlagen, müssen ab 1. Januar 2009 voll und Kursgewinne aus Aktien- und Fonds-
anteilskäufen erstmals ohne Rücksicht auf eine (zuletzt zwölf Monate betragende) Spekulationsfrist versteuert werden. Beide unterliegen jedoch nunmehr genauso wie Zinsen einer Abgeltungssteuer, die unabhängig vom persönlichen Einkommensteuersatz des Bürgers pauschal 25 Prozent beträgt und die gültige Steuerprogression somit unterläuft. Davon profitieren insbesondere jene sehr wohlhabenden Einkommensbezieher, die den Spitzensteuersatz in Höhe von 42 bzw. 45 (sog. Reichensteuer) entrichten müssen, während sich Kleinaktionäre, die mittels entsprechender Wertpapiere privat für das Alter vorsorgen wollen, aufgrund ihres niedrigeren Steuersatzes eher schlechter als bislang stehen.

Nach der „Pferdeäpfel-Theorie“ muss man, um den Spatzen etwas Gutes zu tun, die Vierbeiner mit dem besten Hafer füttern, damit die Spatzen dessen Körner aus ihrem Kot herauspicken können. Tatsächlich vertritt der Neoliberalismus die absurde Lehrmeinung, dass sich der Armut am effektivsten vorbeugen lässt, indem man den Reichtum vergrößert. Reichtumsmehrung statt Armutsverringerung – so lautete auch das heimliche Regierungsprogramm der Großen Koalition, bei dessen Durchsetzung sich die CSU – aus der Opposition durch die FDP angefeuert – besonders hervortat, während die SPD zögerte und zauderte, aber letztlich immer zustimmte, wenn es um den Machterhalt ging. Obwohl ein Regierungsbündnis der großen „Volksparteien“ seiner ganzen Konstruktion wie der unterschiedlichen programmatischen Tradition aller Beteiligten nach den Eindruck vermittelt, als ob sämtliche Bevölkerungsschichten mit ihren spezifischen Interessen angemessen repräsentiert seien, machten CDU, CSU und SPD eine Steuerpolitik nach dem Matthäus-Prinzip: Wer viel hat, dem wird gegeben, und wer wenig hat, dem wird auch das womöglich noch genommen.

Weniger großzügig zeigten sich CDU, CSU und SPD gegenüber den Armen: Als die Koalition rechtzeitig vor dem Jahreswechsel beschloss, ab dem
1. Januar 2009 das Kindergeld für das erste und zweite Kind um 10 EUR und ab dem dritten Kind um 16 EUR pro Monat zu erhöhen, einigte man sich auf Initiative der SPD gleichzeitig darauf, für die Kinder von Hartz-IV-Bezieher(inne)n, die nicht in den Genuss des höheren Kindergeldes kommen, weil es voll auf ihre Transferleistung angerechnet wird, ein „Schulbedarfspaket“ in Höhe von 100 EUR pro Schuljahr zu schnüren. Es sollte nach dem zum Jahresbeginn 2009 in Kraft getretenen Familienleistungsgesetz allerdings nur bis zur 10. Klasse gewährt werden. CDU und CSU hatten auf dieser Begrenzung bestanden, weil die SPD ihrem Wunsch nach Steuerprivilegien für Eltern, deren Kinder auf Privatschulen gehen, nicht entsprach. Die öffentliche Kritik an der beschlossenen Regelung blieb nicht aus, schien es doch geradezu so, als wollte die Große Koalition damit unterstreichen, dass die Kinder aus sozial benachteiligten Familien kein Abitur machen sollen, oder dokumentieren, dass Gymnasiasten der höheren Klassenstufen ohnehin aus Elternhäusern kommen, die keiner staatlichen Zuwendung bedürfen. Auf einer Sitzung des Koalitionsausschusses am 4./5. März 2009 verständigten sich CDU, CSU und SPD schließlich darauf, den Gesetzestext an diesem Punkt nachzubessern und auch Oberstufenschüler/innen und Vollzeit-Berufsschüler/innen sowie die Kinder von Geringverdiener(inne)n in den Genuss des „Schulbedarfspaketes“ kommen zu lassen, das jedoch den realen Bedarf gar nicht deckt.

CDU, CSU und FDP stritten im Bundestagswahlkampf 2009 zwar energisch ab, den Sozialstaat weiter demontieren zu wollen, und vermieden auch in ihrem am 24. Oktober vorgestellten Koalitionsvertrag unter der Überschrift „Wachstum. Bildung. Zusammenhalt“ jeglichen Hinweis darauf. Erst nach der nordrhein-westfälischen Landtagswahl am 9. Mai 2010 wurde für alle Bürger/innen deutlich erkennbar, dass die schwarz-gelbe Koalition trotz des wohlklingenden Titels ihrer Regierungsvereinbarung die soziale Kohäsion gefährdet, weil sie mit ihrem „Sparpaket“, das am 6./7. Juni im Kanzleramt geschnürt wurde, zum weiteren Zerfall unserer Gesellschaft in Arm und Reich beiträgt. Denn die geplanten Einschnitte treffen vor allem Langzeitarbeitslose und arme Familien. Da soll den Hartz-IV-Familien das Sockelelterngeld (in Höhe von 300 Euro pro Monat) gestrichen und für Bezieher/innen von Arbeitslosengeld II kein Beitrag mehr in die Gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt werden. Damit fördert man die Altersarmut und tut genau das Gegenteil dessen, was man als Ziel des „Sparpaketes“ vorgibt, weil die Kommunen später in Form höherer Aufwendungen für die Grundsicherung im Alter und damit künftige Generationen seine Folgekosten zu tragen haben. Rabiat gekürzt wird ausgerechnet im Bereich der Arbeitsförderung, also bei der beruflichen Weiterbildung für Arbeitslose, wo Pflicht- zu Ermessensleistungen der Jobcenter werden sollen. Damit zeigt die Bundesregierung, dass sich ihr Bekenntnis zur „Bildungsrepublik Deutschland“ und das Versprechen der Kanzlerin, „Bildung für alle“ zu ermöglichen, bloß auf Exzellenzbereiche und die Elitebildung von Privilegierten bezieht, aber Erwerbslose gerade nicht einbezieht, wie sie dadurch auch die (Langzeit-)Arbeitslosigkeit erhöht, was wiederum mit Mehrkosten im Bereich der passiven Arbeitsmarktpolitik verbunden ist. Angeblich wollte die Bundesregierung auch Banken und große Energieunternehmen belasten, dabei handelte es sich jedoch buchungstechnisch größtenteils um Luftnummern. Die überfällige Finanztransaktionssteuer gab es unter dieser Regierung nicht, die Brennelementesteuer muss erst noch vor den höchsten Gerichten bestehen, und die ohnehin unsoziale Flugticketabgabe (Benutzer von Privatmaschinen müssen sie im Unterschied zu Pauschalreisenden gar nicht entrichten) steht bereits wieder zur Disposition.

Die neuere Armutsdebatte: Altersarmut – eine bedrückende Zeiterscheinung, ein mögliches Zukunftsproblem oder nicht mehr als ein Mythos der Linken?

Die deutsche Armuts- und Reichtumsdiskussion erreichte im Jahr 2012 einen historischen Höhepunkt, dem sich allerdings ein herber Rückschlag anschloss. Der heftigste Konflikt entzündete sich am Thema „Altersarmut“, an den Konzepten zu ihrer Bekämpfung sowie am (Entwurf zum)
4. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Altersarmut war jahrzehntelang ein Tabuthema gewesen, das vermutlich auch deshalb verdrängt wurde, weil viele Menschen unterschwellig Angst haben, spätestens im Rentenalter selbst davon betroffen zu sein. Erst im September 2012 avancierte sie gewissermaßen über Nacht zum Topthema in den Medien, zur größten Herausforderung der Sozialpolitik und zum Hauptstreitpunkt der CDU/CSU/FDP-Koalition. Das auslösende Moment war ein parteitaktisches Manöver der Arbeits- und Sozialministerin. Ursula von der Leyen (CDU) wollte mit Rechenbeispielen zur künftigen Lage von Rentner(inne)n den Widerstand innerhalb der Koalition wie der Union gegen die von ihr geplante „Zuschussrente“ brechen: Wer 35 Jahre lang monatlich unter 2.500 Euro brutto verdient, habe beim Renteneintritt ab 2030, prognostizierte sie in Bild am Sonntag, weniger als die Grundsicherung im Alter zu erwarten und müsse mit 67 Jahren den Gang zum Sozialamt antreten. Während das Bundesministerium für Arbeit und Soziales die Altersarmut immerhin als drängendes Zukunftsproblem betrachtete, suchte das von Philipp Rösler (FDP) geleitete Wirtschaftsressort durch ein am 18. Dezember 2012 vorgestelltes Gutachten seines Wissenschaftlichen Beirates zu belegen, dass keine Änderung des Rentenrechts durch Einführung einer „Lebensleistungsrente“ (Koalitionsausschuss), einer „Solidarrente“ (SPD), einer „Garantierente“ (Bündnis 90/DIE GRÜNEN) oder einer „solidarischen Mindestrente“ (DIE LINKE) nötig sei. In deutschen Tageszeitungen gab es daraufhin Schlagzeilen wie „Jeder Dritte fürchtet Altersarmut – zu Unrecht“ (Die Welt) oder „Die Legende von den armen Alten“ (Kölner Stadt-Anzeiger).

Als der Entwurf des 4. Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung am 18. September 2012 durch eine Indiskretion bekannt und in der Süddeutschen Zeitung darüber unter dem Titel „Reiche trotz Finanzkrise immer reicher“ berichtet wurde, ging ein Aufschrei durchs Land, weil das Bundesministerium für Arbeit und Soziales eine doppelte Spaltung des Landes empirisch belegte: Einerseits wachsen Armut und Reichtum gleicher-maßen, sind also zwei Seiten derselben Medaille. Dies zeigt sich besonders deutlich beim Vermögen, das Arme gar nicht haben, weil es sich zunehmend bei wenigen Superreichen konzentriert, die über riesiges Kapitaleigentum verfügen und meistens auch große Erbschaften machen. Während die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung mehr als 53 Prozent des Nettogesamtvermögens besitzen, kommt die ärmere Hälfte der Bevölkerung gerade mal auf 1 Prozent. Über 40 Millionen Menschen leben also von der Hand in den Mund. Bertolt Brecht hat es in einem Vierzeiler unnachahmlich prägnant ausgedrückt: „Armer Mann und reicher Mann / standen da und sah’n sich an. / Und der Arme sagte bleich: / Wär’ ich nicht arm, wärst du nicht reich.“ Deshalb kann Armut im Rahmen der bestehenden Gesellschaftsordnung auch nicht durch zunehmenden Reichtum beseitigt werden. Anders formuliert: Reichtumsförderung, wie sie die Bundesregierung trotz wechselnder Koalitionen seit Jahrzehnten betreibt, ist eben keine Armutsbekämpfung.

Andererseits geht der wachsende private Reichtum zwangsläufig mit einer öffentlichen Verarmung einher. Während das Nettovermögen des Staates in den letzten beiden Jahrzehnten um mehr als 800 Mrd. Euro gesunken ist, hat sich das private Nettovermögen allein zwischen 2007 und 2012 um 1,4 Bio. Euro erhöht. Geld ist also genug da, es befindet sich aber in den falschen Taschen, was den Staat auf Dauer handlungsunfähig macht, obwohl er die Aufgabe hat, soziale Probleme zu lösen oder wenigstens zu lindern. Während sich Banker, Broker und Börsianer, besonders rücksichtslose Spekulanten, die Taschen gefüllt haben, musste der Staat im Gefolge der Finanz-, Wirtschafts- und Währungskrise bluten, Volkseigentum verscherbeln und mehr Schulden machen, um Rettungspakete für Gläubigerbanken, Kapitalanleger und Großaktionäre schnüren zu können. In dieser Situation bedeuten im Grundgesetz, in den Landesverfassungen und im europäischen Fiskalvertrag festgeschriebene „Schuldenbremsen“, dass der Sozialstaat, wie man ihn bisher kannte, zu Grabe getragen wird.

Innerhalb der schwarz-gelben Koalition stieß sich besonders Wirtschaftsminister Philipp Rösler an den Feststellungen, dass die Privatvermögen hierzulande „sehr ungleich verteilt“ seien, dass die Einkommensspreizung zugenommen habe, dass über 4 Mio. Menschen für einen Bruttostundenlohn von unter 7 Euro arbeiten und dass Niedriglöhne das Armutsrisiko verschärfen und den sozialen Zusammenhalt schwächen, sowie an der Forderung nach einer Prüfung durch die Bundesregierung, ob und wie der private Reichtum über die Progression in der Einkommensbesteuerung hinaus für die nachhaltige Finanzierung öffentlicher Aufgaben heranzuziehen sei. Daraufhin wurden Passagen, die den ausufernden Niedriglohnsektor, die zu-
nehmende Lohnspreizung und die extreme Verteilungsschieflage betrafen, im Rahmen der Ressortabstimmung gestrichen bzw. abgeschwächt, was der Regierungskoalition den Vorwurf eintrug, das Dokument über die Lebenslagen in Deutschland geschönt zu haben. Zum ersten Mal wurde soziale Kosmetik dieser Art nicht hinter den Kulissen, vielmehr vor aller Augen betrieben und weiten Teilen der Öffentlichkeit klar, dass Armut und Reichtum einer politischen Klassifikation unterliegen und selbst innerhalb des „bürgerlichen“ Lagers gegensätzliche Bewertungen existieren. Deshalb wäre es auch falsch, den Armuts- und Reichtumsbericht von scheinbar „unabhängigen“ Wissenschaftlern erstellen zu lassen und die Bundesregierung damit von der Pflicht zu entbinden, selbst deutlich Position in Sachen Einkommensund Vermögensverteilung bzw. Verteilungs(un)gerechtigkeit zu beziehen. Nach den gesellschaftlichen Ursachen der kaum mehr zu leugnenden Spreizung von Einkommen und Vermögen wird in keinem der bisherigen Armuts- und Reichtumsberichte gefragt. Allenfalls geraten Auslöser individueller Notlagen, etwa Arbeitslosigkeit, Trennung bzw. Scheidung vom (Ehe-)Partner oder (Früh-)Invalidität, ins Blickfeld der Berichterstatter. Umso wichtiger wäre es, strukturelle Hintergründe zu beleuchten, um persönlichen Schuldzuweisungen keinen Vorschub zu leisten sowie der Verantwortung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft gerecht werden zu können.

Wenn der Sozialabbau und die Regierungspolitik nach dem Matthäus-Prinzip (im Evangelium des Matthäus heißt es sinngemäß: „Wer hat, dem wird gegeben, und wer wenig hat, dem wird auch das Wenige noch genommen“) jedoch fortgesetzt werden, dürften die Städte der Bundesrepublik noch mehr zerfallen: in Luxusquartiere, wo sich die (Super-)Reichen hinter hohen Mauern verschanzen und von privaten Sicherheitsdiensten bewachen lassen, einerseits sowie in Elendsquartiere, wo sich die Armen zusammenballen, andererseits. Was der 4. Armuts- und Reichtumsbericht verschweigt: Das hier skizzierte Szenario hat die Bundesregierung selbst heraufbeschworen, wie auch diesmal nur berichtet wird, aber Konsequenzen im Sinne einer Kurskorrektur etwa auf steuerpolitischem Gebiet ausbleiben.

„Die Einkommens- und Vermögenssituation der Älteren von heute ist überdurchschnittlich gut“, heißt es im 4. Armuts- und Reichtumsbericht. Systematisch wird die gesellschaftliche Realität darin beschönigt, die soziale Ungleichheit geleugnet und die Öffentlichkeit getäuscht: Seit die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung 2003 eingeführt wurde, hat sich die Zahl der älteren Menschen, die auf sie angewiesen sind, um rund zwei Drittel erhöht. 2011 waren es bereits über 436.000 Ältere, die einschließlich Miete und Heizung im Durchschnitt weniger als 700 Euro pro Monat erhielten. Es ist jedoch ein offenes Geheimnis, dass sich besonders ältere Menschen damit schwertun, diese Transferleistung – früher hieß sie Fürsorge bzw. Sozialhilfe – zu beantragen, weil sie zu stolz sind, sich schämen, den bürokratischen Aufwand scheuen oder weil sie irrtümlich den Unterhalts-
rückgriff auf ihre Kinder bzw. Enkel fürchten. Geht man davon aus, dass die sog. Dunkelziffer hoch ist, liegt die Zahl derjenigen Menschen, die im Alter auf Hartz-IV-Niveau leben, inzwischen deutlich über einer Million.

Die Einkünfte von mehr als zwei Millionen Senior(inn)en fallen unter die „Armutsrisikoschwelle“ der Europäischen Union (952 Euro). Kein Wunder, dass es über 760.000 Ruheständler gibt, die einen Minijob haben, darunter fast 120.000 Personen, die 75 Jahre oder älter sind. An den Lebensmitteltafeln häufen sich ältere Menschen, die wegen ihrer Minirenten spätestens am 20. des Monats nichts mehr Warmes auf den Tisch bringen. In den meisten Städten gehören Seniorinnen und Senioren, die frühmorgens Zeitungen austragen oder in Müllcontainern nach Pfandflaschen suchen, längst zum „normalen“ Stadtbild.

Obwohl das soziale Klima hierzulande immer stärker von Tendenzen zur Entsolidarisierung und Eiseskälte bestimmt ist, gibt es derzeit einen politisch-ideologischen Rollback in der Armutsdiskussion. Verschiedentlich wird behauptet, die Armut sei zwar bis zum Jahr 2005 gestiegen, danach aber wieder gesunken. Ebenso wie beim Rückgang der offiziell registrierten Arbeitslosen stellen „Experten“ wie Michael Hüther (Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, Köln) oder Walter Krämer (Statistikprofessor an der Universität Dortmund) einen Kausalzusammenhang zwischen diesem bloßen statistischen Artefakt und den sog. Hartz-Gesetzen her, die damals ihre segensreiche Wirkung entfaltet haben sollen.

Wer ohne ideologische Scheuklappen durchs Land geht und genau hinschaut, kommt zu einem anderen Ergebnis: Momentan verfestigt sich die Armut und breitet sich in die Mitte der Gesellschaft hinein aus, ohne als Kardinalproblem der Gesellschaftsentwicklung wahrgenommen zu werden. Die soziale Spaltung dürfte weiter zunehmen, falls ihr nicht entschiedener begegnet wird. Aufgrund härterer Verteilungskämpfe um die knappen Finanz-mittel des Staates ist jedoch keine Verbesserung des sozialen Klima zu erwarten. Bereits seit längerem mehren sich die Anzeichen für eine „härtere Gangart“ gegenüber den Armen. Mit der US-Amerikanisierung des Sozialstaates und des Arbeitsmarktes geht nicht nur eine US-Amerikanisierung der Sozialstruktur (Polarisierung von Arm und Reich sowie Pauperisierung großer Teile der Bevölkerung und Prekarisierung der Lohnarbeit), sondern auch eine US-Amerikanisierung der (sozial)politischen Kultur einher.

 

Literatur

Butterwegge, Christoph: Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird, 3. Aufl. Frankfurt am Main/New York 2012
Butterwegge, Christoph: Krise und Zukunft des Sozialstaates, 4. Aufl. Wiesbaden 2012
Butterwegge, Christoph/Bosbach, Gerd/Birkwald, Matthias W. (Hrsg.): Armut im Alter. Probleme und Perspektiven der sozialen Sicherung, Frankfurt am Main/New York 2012
Prof. Dr. Christoph Butterwegge, geb. 1951, lehrt seit 1998 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln.


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