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von in Allgemein AN 8. Juli 2016


Einleitung zum Jahrbuch 2014/2015 von Frank Bsirske: Arbeit 4.0

Das Jahr 2015 wird für die Gewerkschaften ein Jahr des Aufbruchs und des Umbruchs: Wenn zum 1. Januar 2015 der gesetzliche Mindestlohn mit einer – von einigen Ausnahmen abgesehen – einheitlichen Lohnuntergrenze in ganz Deutschland gilt, dann haben sie einen Durchbruch erreicht, von dem mehr als drei Millionen Menschen direkt profitieren und zugleich eine Wende auf dem Arbeitsmarkt hin zu einer stabileren Tarifvertragslandschaft eingeleitet. Denn auf der Basis des gesetzlichen Mindestlohnes werden frei ausgehandelte und wo es notwendig ist, auch für allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge stehen. Sie werden höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen sichern und der Erosion der Arbeitsbeziehungen entgegenwirken. Gewiss: Was im Gesetzblatt steht, ist noch nicht wirklich geworden, aber die Gewerkschaften werden in der Lage sein, diese Neuordnung der Arbeit mit dem Gesetzgeber zusammen durchzusetzen. Und: Nicht nachlassen werden die Gewerkschaften bei der Eingrenzung und Zurückdrängung entsicherter Arbeitsverhältnisse. Die Fortschritte bei der Neuregelung der Leiharbeit müssen erst in die Realität umgesetzt werden. Dem Missbrauch der Werkverträge muss Einhalt geboten und vor allem die sachgrundlose Befristung muss gestrichen und der Kündigungsschutz wieder gestärkt werden. Zur modernen Arbeitswelt gehören der aufrechte Gang der Beschäftigten und nicht Abhängigkeitsverhältnisse aus Angst um den Arbeitsplatz, um die Verlängerung des Arbeitsvertrages, um den Lohn für den nächsten Tag. Dieser Aufbruch verlangt viel Kraft ebenso wie die Tarifrunden diesen Jahres, die um der wirtschaftlichen Entwicklung und der Gleichgewichte in Europa willen, zu deutlich höheren Reallöhnen führen müssen.

Zu dem Aufbruch in der Arbeitswelt gehört auch die Wahrnehmung und die Auseinandersetzung mit fundamentalen, fast revolutionär zu nennenden Entwicklungen in der Arbeit selbst: „Industrie 4.0“ – diese Metapher für die digitale Revolution in der industriellen Produktion des 21. Jahrhunderts, in der menschliche Arbeit weitgehend durch sich selbst steuernde Maschinen abgelöst werden soll, weist auf einen tiefgreifenden Umbruch in der Arbeitswelt hin. Die Digitalisierung der Arbeit durchdringt dabei alle Dimensionen moderner Arbeit: Die Produktions-, die Dienstleistungs- und die Wissensarbeit. Während die Aufmerksamkeit von Wirtschaft und Politik sich vor allem auf die Herausforderungen in der Produktionsarbeit konzentrieren, wird nur allzu leicht die Dynamik in der Digitalisierung von Dienstleistungen und Dienstleistungsarbeit übersehen, die bereits heute gravierende Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft hat.

Schon heute werden rund 70 Prozent der Bruttowertschöpfung in den Dienstleistungsbranchen erarbeitet und mehr als 70 Prozent aller Erwerbstätigen sind mit Dienstleistungen beschäftigt. Zugleich ist der Anteil der durch Digitalisierung erzeugten Wertschöpfung im Dienstleistungsbereich auf ein Drittel der gesamten Wertschöpfung angewachsen – Tendenz steigend.

In einer Studie für die Vereinigung der Bayrischen Wirtschaft kommt Prognos zum dem Fazit: „Insbesondere die Dienstleistungsbranchen dominieren in der Gruppe der Spitzenreiter der hoch digitalisierten Branchen. Der tertiäre Sektor ist kein Nachzügler, sondern steht an der Spitze der Digitalisierung.

Für diejenigen, die Dienstleistungen in Anspruch nehmen oder für die sie erbracht werden, hat dies bereits heute tiefgreifende Folgen bis in den Alltag hinein: Das Internet wird zur Plattform für Information, Kommunikation und Dienstleistungen. Online-Banking, Online-Buchung, Online-Bestellungen prägen das Kundenverhalten. Der Geschäftsverkehr, sei es mit Firmen oder Verwaltungen, wird immer mehr online abgewickelt. Wer mit Bus oder Bahn fährt, sollte digital gesteuerte Automaten bedienen können. Kritisch wird die Automatisierung von Dienstleistungen dann, wenn Menschen keinen Internetzugang haben oder nicht damit umgehen können. Noch kritischer sind Digitalisierungsprozesse im Bildungs-, Sozial- und Gesundheitswesen, in denen die Interaktion, die Begegnung von Mensch zu Mensch an erster Stelle stehen muss – im Unterricht, im Beratungsgespräch, am Krankenbett. Sie kann und darf nicht durch digitale Medien oder den Einsatz von Automaten ersetzt werden. Und noch kritischer sind die neuen Möglichkeiten des Big Data, der unendlichen Verknüpfung von Daten zu bewerten, wenn sich über sie Konsumgewohnheiten ebenso wie Sozialverhalten nachvollziehen und bewerten lassen.

Die Anforderungen an die Gestaltung von digitalen Dienstleistungen gehen weit über die Konstruktion und Entwicklung des Dienstleistungsgeschehens hinaus: Zugänglichkeit und Nutzbarkeit von Dienstleistungen darf nicht von Einkommen und Bildungsgrad in einem Maße abhängig gemacht werden, dass etwa Dienstleistungen der Daseinsfürsorge und Vorsorge nicht mehr in Anspruch genommen werden. Digitale Dienstleistungen müssen verbraucherfreundlich sein und nicht zusätzliche Hürden – etwa im Umgang mit Automaten und im Internet – errichten. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und Datenschutz muss Vorrang haben vor ökonomischen Interessen. Umfassende Informationen über Chancen und Risiken sind verständlich zu vermitteln.

Ohne Digitalisierung lassen sich viele Dienstleistungen heute quantitativ wie qualitativ nicht erbringen. IT-gestützte Dienstleistungssysteme zur Mobilität, Energieversorgung, Gesundheit, Bildung, Medien oder auch der öffentlichen Verwaltung sind für Wirtschaft, Gesellschaft und Staat unverzichtbar. Aber sie müssen von den Menschen, für die sie erbracht werden, und von einer kritischen Öffentlichkeit, einer aufmerksamen Politik und auch den Gewerkschaften mitgestaltet werden. Entsprechend artikulieren die Gewerkschaften zunehmend, welche Herausforderungen die Digitalisierung der Arbeit in den Dienstleistungen für die Beschäftigten bedeuten.

Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung (Schwemmle / Wedde, 2012) hat den Grad der Digitalisierung der Arbeit ermittelt: Digitale Arbeit als Arbeit, die unter maßgeblicher Nutzung informations- und kommunikationstechnischer Arbeitsmittel stationär und zunehmend mobiler Geräte verrichtet wird und deren Arbeitsgegenstände in wesentlichen Anteilen als Informationen in digitaler Arbeit existieren, wird heute in Deutschland zu 98 % in Unternehmen der Finanz-und Versicherungsdienstleistungen, 95 % der Information und Kommunikationsbranche, zu 91 % in freiberuflichen, wissenschaftlichen und technischen Dienstleistungen, zu 59 % im verarbeitenden Gewerbe, zu 47 % in sonstigen Dienstleistungen verrichtet. Schlusslichter sind das Baugewerbe mit 36 % und das Gastgewerbe mit 28 %. Welche Auswirkungen dies auf die Zahl der Arbeitsplätze hat, lässt sich noch nicht abschätzen: Bei den Finanzdienstleistungen und im Handel, im Verwaltungsbereich von Unternehmen und Behörden, von öffentlichen und privaten Einrichtungen, aber auch in den Medien und im Bildungssektor gibt es erhebliche Potenziale für Rationalisierung und Arbeitsplatzabbau. Andererseits nimmt die Beschäftigung in den sozialen Dienstleistungen, in der Beratungsbranche, in der Wissenschaft, bei Forschung und Entwicklung zu. Die von Martin Baethge 2011 prognostizierte Zunahme von Arbeitsplätzen im so genannten sekundären, d.h. wissensgestützten Dienstleistungssektor beschleunigt sich. Dienstleistungsfacharbeit wird zunehmend gefragt – darauf weist auch die Diskussion über Fachkräftemangel in Dienstleistungen, insbesondere im Gesundheits- und Bildungswesen, hin: Arbeitsplätze gehen hier verloren, werden dort aufgebaut – aber die Arbeit geht nicht aus.

Für die Beschäftigten stellen diese Entwicklungen hohe Anforderungen an ihre Qualifikation und ihre Bereitschaft, sich ständig weiterzubilden. Betriebs- und Personalräte müssen sich ebenso wie die Gewerkschaften in ihrer Berufsbildungs- und Weiterbildungspolitik auf die immer höheren Anforderungen wissensbasierter Dienstleistungsarbeit einstellen.

Digitalisierung verändert zugleich die Arbeits- wie die Lebenswelt der Beschäftigten. Schwemmle und Wedde weisen auf die steigende Nutzungsintensität der IKT bei Erwerbstätigen hin. In Deutschland nutzen 85 % den Computer täglich, 12 % mindestens einmal die Woche. Der Nutzungsort für 94 % ist das eigene Haus, für 70 % der Arbeitsplatz, bei 21 % in der eigenen Wohnung und bei 13 % an anderen Orten wie dem Flugzeug, der Bahn usw. Digitalisierung beschleunigt Mobilität, Arbeit rund um die Uhr ist ebenso möglich wie neue Formen der Vereinbarkeit von Arbeit und Leben. Die Kreativwirtschaft steht für solche Freiheitsgrade und ein erheblicher Teil der dort Erwerbstätigen arbeiten als Freiberufliche und Soloselbständige digital. Von ihnen aber auch vielen digital arbeitenden abhängig Beschäftigten werden feste Arbeitszeitvorgaben usw. oder Vorschriften zur Arbeitsplatzgestaltung als unnötige Freiheitsbegrenzung abgelehnt und sie lassen sich auch ungern in feste Schemata der Arbeitsorganistin pressen.

Welche Befreiung von und in der Arbeit ist hier möglich, wären da nicht die Anforderungen der Arbeitgeber und die Zwänge einer hochgradig vernetzten Arbeitswelt. Dennoch wird gerade in den letzten Jahren deutlich, dass der schönen neuen Arbeitswelt Grenzen gesetzt werden. Die psychische Belastung steigt immer stärker an, ständige Erreichbarkeit im Netz zerstört die Freiräume für freie Zeit oder Familienarbeit, hinzu kommen technische Probleme, die dann von den Betroffenen selbst durch zusätzliche Arbeitsleistung ausgeglichen wird und so unbegrenzt wie die neue Freiheit ist auch die Konkurrenz untereinander und die Selbstbestimmung über die Arbeitsabläufe hat zugleich eben auch im Internet die Kontrollmacht der Arbeitgeber wachsen lassen.

Gute Digitale Arbeit wird so zunehmend zu einer Gestaltungsaufgabe für Betriebs-und Personalräte und die Gewerkschaften. Dazu benötigen sie auf der einen Seite gesicherte arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse. Aber die Geschwindigkeit mit der immer neue Modelle und Formen digitaler Arbeit entwickelt werden – etwa arbeiten in der Cloud und in der Crowd – lässt die Arbeitsforschung weit hinter sich zurück. Darum gehören die Entwicklung digitaler Dienstleistungen und die digitaler Dienstleistungsarbeit im Kern zusammen. Aber schon heute wissen wir, dass dringend Grenzen gesetzt werden müssen: Grenzen der zeitlichen Mobilität durch das Recht auf Nichterreichbarkeit; Grenzen der Überwachung und Kontrolle durch einen Beschäftigtendatenschutz. Vorausschauend digitale Arbeit zu gestalten ist aber nicht nur eine Aufgabe der Dienstleistungs- und Arbeitsforschung oder des Arbeitsschutzes. Sie ist auch eine Aufgabe, die von den digital Tätigen selbst in Angriff genommen werden kann.

Der individuellen Mitgestaltung in Verbindung mit der kollektiven Mitbestimmung eröffnen sich gerade durch die digitale Kommunikation neue Möglichkeiten. Virtuelle Abteilungsversammlungen, Virtuelle Betriebsversammlungen, Arbeitsgruppen von Beschäftigten und Betriebsräten, Expertenrat digital angefragt, dies alles ist möglich, muss aber von den Arbeitgebern eingefordert werden.

Können neue Formen der Kommunikation und der Verständigung, erweiterte Mitgestaltung und Mitbestimmung jene Entwicklung auffangen, die mit der digitalen Arbeit in vielen Bereichen einhergeht: Die zunehmende Individualisierung der Arbeitsleistung wie der Arbeitsbeziehungen?

So wirft die Arbeit 4.0 nicht nur die Fragen nach den Grenzen ihrer Anwendbarkeit auf – was überhaupt digitalisiert werden kann und wo sie direkte menschliche Kommunikation nicht mehr ersetzen sondern nur ergänzen kann. Sie wirft nicht nur die Frage nach den Grenzen des Arbeitsvermögens und der Arbeitsleistung auf. Sie stellt auch die Frage nach Mitbestimmung und Beteiligung und damit nach Macht und Gestaltungsräumen in der Arbeitswelt neu.


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