Das erste Apostolische Schreiben
von Papst Leo XIV. ist unter
dem Titel „Dilexi Te” („Ich
habe dich geliebt”) vor kurzem
im Oktober 2025 erschienen.
Es ist (noch) nicht die eigentlich
erwartete Sozialenzyklika,
sondern eine „Exhortation”,
also eine Ermahnung. Diese
Exhortation ist eine Fortführung
der letzten Enzyklika von
Papst Franziskus mit dem leicht
verwechselbaren, weil ähnlichen
Titel „Dilexit nos” („Er
hat uns geliebt”) vom Oktober
2024. Das jetzige Schreiben
ist zu großen Teilen ein bereits
vorformuliertes Erbe des
Papstes Franziskus. Papst Leo
nimmt dieses Erbe an und vollendet
es. Er zeigt damit, dass er
in dieser sehr grundsätzlichen
Frage die Linie seines Vorgängers
übernimmt und fortzuschreiben
gedenkt.
Worum geht es überhaupt?
Der inhaltliche Schwerpunkt
aller 121 Kapitel sind grob gesagt
die Armen und ihre subjekthafte
Würde, ihre bevorzugte
Bedeutung für die Kirche,
die strukturellen Ursachen
ihres Elends und der gesellschaftliche
Umgang damit.
Die Darstellung ist keine
nüchterne akademische Abhandlung,
sondern im Grunde
ein einziger Protestschrei gegen
die Entwürdigung der
Armen. Die beiden Päpste
durchforsten und verlebendigen
punktuell die Kirchengeschichte
von ihren Ursprüngen
in der Bibel bis zur Soziallehre
unserer Tage und stellen vor allem
einen Aspekt heraus: Gott,
der den Schrei der Armen hört,
hat eine besondere Vorliebe für
die Armen, Entrechteten und
Ausgegrenzten. Diese „vorrangige
Option für die Armen”
(7,16,90…) kann in Kirche und
Gesellschaft dann erneuernd
wirken, „wenn wir dazu fähig
sind, uns von unserer Selbstbezogenheit
zu befreien” (7).
Denn der Umgang mit den Armen
lässt sich von kirchlicher
Warte aus betrachtet an keine
wie auch immer organisierte
Sozialpolitik delegieren (mit
der man die Armen guten Gewissens,
aber betroffenheitsfrei
auf Distanz hält), sondern die
Armen sind gewissermaßen
Familie, sie sind der Kirche
„eigen Fleisch” (103). Aus der
kirchlichen Tradition heraus
wird vielstimmig deutlich,
„dass das Evangelium nur dann
richtig verkündet wird, wenn
es dazu anspornt, mit den Geringsten
leibhaftig in Berührung
zu kommen”, und „dass
strenge Lehren ohne Barmherzigkeit
bloß leere Worte sind.”
(48). Und so ist „Nächstenliebe
nicht etwas Optionales, sondern
das Kriterium für den
wahren Gottesdienst” (42).
Fragt man nach den Ursachen
für die Armut, dann sind
sich Franziskus und Leo offensichtlich
einig. Die Exhortation
nimmt frühere kapitalismuskritische
Aussagen zustimmend
auf und prangert die „Diktatur
einer Wirtschaft, die tötet” an
(92). Gemünzt ist diese Aussage
natürlich auch hier (wie früher
schon bei Papst Franziskus)
nicht etwa grundsätzlich
auf jede marktbasierte Wirtschaftsordnung,
sondern auf
eine Wirtschaft, die die sozial
entsicherten Märkte als die
alleinige Lösung des Problems
der Armut ansieht und den
Menschen „einseitig und unerbittlich
ihre Gesetze und ihre
Regeln aufzwingt” (92). Entsprechend
dieser Tyrannei zu
handeln, wird gerne als wirtschaftliche
Vernunft bezeichnet,
zu der es keine Alternative
gibt. Dabei ist es Ideologie! Es
ist die Ideologie der „strukturellen
Sünde”. Mit dem Begriff
„Struktur der Sünde” (93) aus
der Theologie der Befreiung,
den schon Papst Johannes Paul
II. in die Soziallehre übernommen
hat, wird die systemische
Blasphemie des Kapitalismus
herausgestellt. Deutlich wird
dies an der christlichen Eigentumsordnung,
die der kapita -
listischen Eigentumsordnung
konträr entgegensteht. Die Erde
ist „zum Nutzen aller Menschen
und Völker bestimmt”.
Niemand ist befugt, „seinen
Überfluss ausschließlich sich
selbst vorzubehalten, wo andern
das Notwendigste fehlt”
(86). Die Vertreter eines neo -
liberalen Kapitalismus sehen
das natürlich ganz anders. Für
sie ist das Privateigentum unantastbar.
Dass Papst Leo bei
der Ursachenbeschreibung die
klare Positionierung seines
Vorgängers übernimmt, lässt
hoffen, dass sich die Kirche
auch in Zukunft als systemkritische
Stimme in den Diskurs
zum Thema der sozialen Gerechtigkeit
einbringt.
Lehnt man zynische Lösungsversuche
ab, etwa statt
der Armen doch lieber gleich
die reichen Eliten zu fördern
(114), bleibt als wichtigste
Maßnahme gegen die Armut:
die Integration der Armen in
den Arbeitsmarkt. Das wäre
ein wichtiger Baustein hin zu
mehr Verteilungs- und Teil -
habegerechtigkeit. Dabei ist
wichtig zu betonen, dass es
nicht um irgendeine, sondern
um „gute Arbeit” (115) geht,
eine Arbeit, die als Teilhabe an
der Schöpfung der personalen
Würde der Arbeitenden entspricht.
Einem Niedriglohnsektor
wäre damit von vorneherein
der Boden entzogen.
Wenn das aber nicht funktioniert,
wenn also den Armen
ihre Teilhaberechte über eine
gute Arbeit vorenthalten werden,
dürfen sie dennoch nicht
einfach ihrem Schicksal überlassen
bleiben. Papst Leo plädiert
in diesem Fall für das traditionelle
Mittel des Almosengebens.
Das ist durchaus heikel
und leicht kann man dabei in
falsches Fahrwasser geraten,
so als ob dadurch strukturelle
Veränderungen in der Gesellschaft
unnötig gemacht würden.
Deshalb betont Leo sogleich,
dass Almosengeben
„nicht die Lösung für die Armut
in der Welt” sein kann
(119). Aber es ist ein Weg, der
um sich greifenden Gleichgültigkeit
den Armen gegenüber
zu begegnen und der kulturellen
Spaltung zwischen arm und
reich in der Gesellschaft entgegenzuwirken.
Almosengeben
ist „eine notwendige Gelegenheit
der Berührung, der Begegnung
und der Empathie” (115).
Unmittelbare Begegnung als
Chance, vorhandene Entfremdungen
und Ressentiments abzubauen!
Es bedeutet aber keineswegs
eine Entschärfung der
grundsätzlichen Kritik an den
derzeit herrschenden armmachenden
und entwürdigenden
Verhältnissen.
Dilexi Te bezieht Stellung
und legt den Finger in so manche
gesellschaftliche Wunde.
Papst Leo folgt hier dem Weg
seines Vorgängers. Man darf
gespannt sein auf die erste Sozialenzyklika
dieses Papstes.
Dr. Manfred Böhm








